Maurizio Besana
Tausende Schornsteinfeger und zehntausende Gäste fluten jedes erste Wochenende im September den pittoresken 1300-Seelen-Ort Santa Maria Maggiore im norditalienischen Vigezzo-Tal. Ein Blick hinter die Kulissen des weltgrößten Zunftreffens.
von Mirko Schwanitz
Anita Hofer – wenn jemand weiß, wie alles anfing, dann ist es diese kleine, freundlich lächelnde Frau, die jetzt mit stiller Grandezza vor mir auf einem Stuhl sitzt. Hinter ihr das das große Konterfei des ersten Präsidenten der nationalen Schornsteinfegervereinigung Italiens. „Ich kam in den frühen 1960er Jahren der Liebe wegen nach Santa Maria Maggiore und bin geblieben. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das erste Mal etwas über die Tradition der Kaminkehrer aus Santa Maria Maggiore hörte. Es war seltsam. Niemand wollte mit mir über die Geschichte dieser Männer reden. Mir schien, dass es da ein Geheimnis gab, so dunkel, wie der Ruß auf ihren Gesichtern.“ Anita Hofer begann zu recherchieren. Sie förderte eine außergewöhnliche Geschichte zu Tage. Eine Geschichte, die dem Berufsstand in Italien seinen Stolz zurückgab – und Santa Maria Maggiore zu dem machte, was es heute ist.
Schwarzer Mantel des Schweigens
In den Archiven fand Anita Hofer das Schriftstück eines Schweizer Chronisten aus dem 16. Jahrhundert. „Alle Schornsteinfeger“, so stand da „stammen aus dem Vigezzo-Tal und gehen in die ganze Welt, um ihre Frauen und Kinder zu ernähren.“ Anita Hofer entdeckte Familiennamen aus dem Tal in Holland, Frankreich und anderen europäischen Ländern, auch in den USA. Sie folgte der Spur der Namen. Als sich die Rauchabzugstechnologie änderte, die Kamine so schmal wurden, das kein Erwachsener mehr hindurchpasste, tauchten im bitterarmen Vigezzo Männer auf, die den Familien Kinder abzukaufen begannen. „Die Familien hier waren arm, hatten manchmal 12, 13 Kinder. Die waren froh, einen Esser weniger am Tisch zu haben“, erinnert Anita Hofer. Was die Familien nicht ahnten – die Kinder wurden wie Sklaven behandelt, von ihren „Patrones“ misshandelt und schlecht ernährt, damit sie nicht zu dick wurden. „Erst 1920 machte ein Papst dem Treiben ein Ende und verbot diese Form der Kinderarbeit. Lange Zeit sprach niemand darüber, dass Familien hier früher die eigenen Kinder oder gar mehrere für ein Stück Brot oder eine Hose verkauft oder vermietet hatten. Das Thema war absolut schambehaftet“, sagt Anita Hofer. „Niemand weiß, wie viele dieser Kinder in ihrem sechsten oder siebenten Lebensjahr in Europas Höllenschlünden aus Ruß umgekommen sind. Wie viel Quälerei, Not, Hunger, Rauch und Kälte sie ertragen mussten.“

Kleine Geschichten vom großen Glück
Als 1612 ein italienischer Kehrjunge einen Kamin im französischen Königsschloss putzte, wurde er Zeuge einer Verschwörung. Heinrich der VI. war gerade ermordet worden. Nun sollte auch der Thronfolger, Heinrichs 13-jähriger Sohn Ludwig, umgebracht werden. Für die Aufdeckung des Komplotts dankte die Königsmutter Maria von Medici nicht nur diesem Jungen, sondern gleich allen Schornsteinfegern des Vigezzo mit einem Erlass. Er erlaubte es ihnen, fortan in ganz Frankreich freien Handel zu treiben. Aus einstigen Kehrjungen wurden Ofenbauer, Händler, Goldschmiede. Noch heute gibt es in Paris einen Goldschmied, dessen Vorfahren aus Craveggia kamen. Über drei Generationen belieferten sie die Königsfamilie und wurden reich. 1836 war ein 15-jähriger nach Amsterdam gezogen, um dort Kamine zu kehren – der Ursprung einer der größten holländischen Schornsteinfegerdynastien. Und alle, die es zu etwas brachten, investierten in ihrer italienischen Heimat. Fast jede Familie baute kleine Landpaläste und Kirchen. „Wir haben es diesen Auswanderern zu verdanken, dass unser Valle Vigezzo und Santa Maria Maggiore heute so traumhaft schön sind“, sagt Anita Hofer.
Der Anfang von allem
Die Recherchen von Anita Hofer und einigen Mitstreitern förderten so viele Dokumente zu Tage, so viele Utensilien, Fotos aus Familienalben, dass man zu Beginn der 1980er Jahre zwei kleine Räume als Museum einzurichten begann. Plötzlich wurde den Menschen klar, dass dieses Tal hier die Wiege des europäischen Schornsteinfegerhandwerks und fast jede mit ihm verbunden ist. Das Schweigen wurde gebrochen. Die letzten Augenzeugen erzählten ihre Geschichten. Die schlechten wie die guten. Und so wurde die Idee geboren, den kleinen Kaminkehrern ein Denkmal zu setzen, Anita Hofer für ihr Engagement das Amt der Vize-Präsidentin der italienischen Vereinigung der „Spazzacamino“ anzutragen und aus den zwei kleinen Räumen bald ein modernes Museum zu machen. Schon 1983 lud Anita Hofer zum ersten Mal italienische Schornsteinfeger zur Einweihung eines Denkmals für einen in Mailand umgekommenen Kaminkehrerjungen ein. Zum ersten Mal zeigten danach die italienischen Schornsteinfeger in einer Parade stolz ihre Zunft. „Wir wollten die Zunft feiern, die viele europäische Städte vor verheerenden Bränden schützte. Und wir wollten an die erinnern, die dabei ihr Leben ließen. Wir wollten dem Berufsstand auch seinen Stolz zurückgeben“, sagt Anita Hofer – heute die Grande Dame einer weltweiten Schornsteinfegerfamilie. Denn dass das Fest zum Megaevent werden sollte, heute mehr als 1300 Schornsteinfeger aus aller Welt und zehntausende Gäste anzieht, konnte sie damals nicht ahnen. An diesem Sonntag aber wird sie – wie schon so viele Jahre zuvor – erneut auf der Bühne sitzen. Die schwarzen Männer und Frauen werden ihr applaudieren. Man wird ihre Augen hinter der dunklen Sonnenbrille nicht sehen – wohl aber das glückliche Lächeln, dass ihre Lippen umspielt.
Mit 5 PS in die italienischen Berge
Mice Woelk aus Neuruppin in Mecklenburg-Vorpommern sitzt glücklich auf dem Sattel seines alten, einst in der DDR gebauten S2-Mopeds. Mehr als 1500 Kilometer liegen hinter dem Schornsteinfegermeister und seinen Gefährten, die jetzt ebenso knatternd und hupend wie er in den Park des Museo Spazzacamino einbiegen. Plötzlich brandet Beifall auf, Pfiffe der Anerkennung ertönen – ein paar hundert Berufskollegen sind gekommen, um den Tross zu begrüßen. Wie kann man auch nur auf so eine Idee kommen: Mit 5 PS-Gefährten von Neuruppin über Magdeburg, Erfurt, Aalen, Ravensburg, dem Schweizer Chur und dann über den San Bernardino-Pass bis nach Santa Maria-Maggiore zu fahren? Die Überraschung steht den Ankömmlingen ins Gesicht geschrieben. „Das hatte ich nicht erwartet“, freut sich Mice, der schon zum 30. Mal dabei ist. „Nur hier, in der Atmosphäre dieses Treffens, werden solch verrückte Ideen geboren“, sagt er. „Und dann gibt es immer welche, die mitmachen.“,

Marcus Kieck ist einer von den Mitmachern. Der Schornsteinfegermeister aus Müncheberg in Brandenburg hat die Truppe mit seinem schwarzen Barkas MB 1000 begleitet und war schon 15 Mal dabei. „Wir Schornsteinfeger sammeln auf solchen Touren jedes Jahr Geld für schwerkranke Kinder“, sagt Marcus Kieck. Als Mice mich 2023 fragte, ob ich bei der Tour mitmachen wolle, war es mir eine Ehre.“ Fast 30.000 Euro brachten Mices Trupp auf der Tour zusammen. Am Ende des Treffens werden sie 32.000 Euro an den „Glückstour“ e. V. übergeben. Geld, das nun Familien mit schwerkranken Kindern zugutekommen wird. Die Glückstour der Schornsteinfeger ist eine der größten ehrenamtlichen Spendenaktionen in Deutschland und existiert seit 2006. Seither konnten mit ihrer Hilfe über zwei Millionen Euro für Forschung, Rehakliniken und betroffene Familien gesammelt und verteilt werden.

1.300 Einwohner, 1.300 Schornsteinfeger, 30.000 Gäste
Alberto Morosin findet die schiere Größe des Treffens erstaunlich. Schließlich sei der ausrichtende italienische Verband ja gar nicht groß. Er selbst ist der einzige selbstständige Schornsteinfeger im Ossola-Tal, das sich mit seinen angeschlossenen Tälern Antrona, Anzasca, Bognanco, Divedro, Isorno, Vigezzo, Antigorio und Formazza, vom Lago Maggiore bis zu den majestätischen Viertausendern an der Schweizer Grenze zieht. „Hier und in ganz Italien,“ erklärt mir Alberto, „ist Schornsteinfeger kein Ausbildungsberuf. Man kann angelernt werden. Dann macht man den Beruf einfach. Ich komme aus einer einfachen Familie aus der Nähe von Mailand. Studieren kam aus finanziellen Gründen nicht in Frage. Also habe ich nach der Schule vieles gemacht. Dann ging ich in die Schweiz – wie viele Leute aus den Tälern hier. Mit der Simplon-Bahn bist du ruck zuck in Brigg. Mit der Centovalli-Bahn kommst du schnell nach Locarno. Viele pendeln mit dem Auto. Man verdient dort einfach mehr. In der Schweiz arbeitete ich als Gehilfe eines Schornsteinfegers. Ich entschied, mich dort professionell ausbilden zu lassen und dann nach Hause zurückzukehren.“ Unterstützung oder gar Förderung bei der Gründung seines Gewerbes gab es in der Heimat nicht. „Das Auto habe ich mir von meinem Ersparten gekauft. Die Technik auch. Eine im Kamin rotierende Bürste habe ich sogar selbst gebaut. Der Anfang war nicht leicht. Aber jetzt ist meine Auftragslage gut.“ 85.000 Euro Umsatz im zweiten Jahr seiner Selbstständigkeit. Das kann sich sehen lassen und ernährt Albertos kleine Familie. „Der Schweizer Gesellenbrief öffnet einem hier viele Türen. Der gilt was. Wer einen Schornsteinfeger googelt, der findet mich.“ Alberto wird in diesem Jahr nicht am Schornsteinfegertreffen teilnehmen können. „Ein echter Verlust“, findet er. Warum? „Weil ich viele Freunde und Kollegen in diesem Jahr nicht sehen werde.“

Einziges Weltreffen eines Handwerks
Marko Dorndorf ist der Wortführer der sechs Freunde, die gerade mit einem kleinen Wagen, in dem ein riesiger weißer Teddybär sitzt, durch die Fußgängerzone Richtung Schornsteinfegermuseum bollern. Schornsteinfegermeister Tobias Wieth hat Frau Heike mitgebracht, Meister Christian Becker seine Frau Nora. Auch Kollege Philipp Stupperich ist dabei. Auf dem Wagen prangt die Aufschrift „Glückstour 2025“. Die schwarzen Kluften sind geschmückt mit bunten Stickern. Goldene Knöpfe blitzen in der Morgensonne. Aufnäher zeigen: die sechs kommen aus dem Lahn-Dill-Kreis. Witze fliegen hin und her, einer spielt dem anderen den „Ball“ zu. Die Fröhlichkeit steckt an. Sie spiegelt die Seele des größten und einzigen Welttreffens eines Handwerks. „Die Faszination, dass, was uns hier immer wieder hertreibt, lässt sich für Außenstehende nur schwer beschreiben“, meint Marko Dorndorf, Schornsteinfegermeister aus Eschenburg. „Es ist wie eine Droge. Es macht süchtig“, lacht er.

Wichtigster Wirtschaftsfaktor der Region
Claudio Cottini, kann von seinem Fenster im Rathaus von Santa Maria Maggiore sehen, wie sich der Platz langsam füllt. Schon früh sind die Absperrgitter aufgebaut. Freiwillige Helfer von den Schulen, der Feuerwehr bis zu Guardia Financa wuseln herum. „Wie ein Ameisenhaufen, der erwacht“, denkt er und lächelt. Aber er weiß: Hier hat alles seine Ordnung. Jeder weiß, was er zu tun hat. Das Schornsteinfegertreffen ist das wichtigste Fest für unsere Gemeinde“, sagt er und rückt seine modische Brille zurecht. Die Augen dahinter blitzen einen an, wie die goldenen Knöpfe an den Jacken der Schornsteinfeger. Cottini kann sich noch erinnern, wie alles anfing. „Als die Idee aufkam, zu Beginn der 1980er Jahre, saß ich bereits im Gemeinderat. Damals noch in der Opposition“, lacht er. „Aber ich erinnere mich, dass es nur wenige Gegenstimmen gab. Alle fanden die Idee großartig. Natürlich dachte damals niemand daran, was wir damit auslösen, wohin sich das Ganze entwickeln würde.“ Heute ist das Treffen der wichtigste Wirtschaftsfaktor in der sonst wirtschaftlich schwachen Region. Alle Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen, auch in der näheren Umgebung, sind ausgebucht. Die Parade der Glücksbringer aus aller Welt zieht inzwischen immer mehr Gäste an. „Und alle, die kommen, lassen pro Tag im Durchschnitt 100 Euro in unserem 1300-Seelen-Ort.“

Ein Abbild der Welt, wie sie sein könnte
Es wird Zeit. Cottini legt seine Schärpe mit den italienischen Nationalfarben um. Gleich wird er hinuntergehen und auf dem Podest vor dem alten Rathaus Platz nehmen. Auch das kein leichter Job. Mehr als zwei Stunden heißt es dann, in der prallen Sonne zu sitzen. Schwitzend, zufrieden in sich hinein lächelnd, wird er, ganz Zeremonienmeister, dem vorüberziehenden schwarzen Zug huldvoll und augenzwinkernd zuwinken und eine Rede halten. Was wollen sie den Schornsteinfegern sagen? Cottini überlegt kurz: „Ich werde ihnen sagen, dass dieses Treffen hier in Santa Maria Maggiore ein Abbild der Welt ist, wie sie sein könnte. Wie wir sie uns alle wünschen. Eine Welt des herzlichen und empathischen Umgangs miteinander, des Respekts füreinander, des Verständnisses über alle Sprachbarrieren hinweg.“ Das wird er wirklich sagen. Stunden später. Und mehr als 30.000 werden ihm zujubeln…




